Man hat gedacht, daß Tristan der Held der Pikten war: Drostan. Die Namen Drest, Drust oder Drostan finden sich auf der Liste der Könige, die vom sechsten bis zum achten Jahrhundert in den schottischen Lowlands, und über das heutige Northumberland geherrscht haben. Andere piktische Herrscher heißen Talorc. So war Drest, filius Talorgen, von 730 bis 735 auf dem Thron. Die keltische Literatur des zwölften Jahrhunderts erwähnt einen Drystan ab Tallwch (Drystan, Sohn von Tallwch) und auch eine Eßylt, Gattin von March. Kann man daraus schließen, daß Drystan, Sohn von Tallwch, die legendäre Persönlichkeit ist, die von Drostan, Sohn von Talorc, abstammt und daß das Wort Drystan verbunden mit Tallwch das hohe Alter einer Geschichte attestiert, die auf die Wikinger zurückgehen könnte, und in der Tristan als Hüter der heiligen Wildschweinjungen dargestellt wird ?
Angesichts der Tatsache, daß die Goidelischen Theorien den piktischen Ursprung Tristans betreffend vor den topographischen Details, die die Geographie der Dialekte Cornwalls liefern, zurückweichen, genügt es anzunehmen, Tristan als einen Herrscher über die Pikten anzusehen, bevor er die Sage der keltischen Länder unter dem Waliser Namen Drystan bereicherte. Es befindet sich auch ein König Mark unter den Herrschern von Cornwall im sechsten Jahrhundert; aber es gibt keinen wirklichen Beweis, daß er der Mark der Legende ist. Anscheinend waren es die Waliser, die Tristan und König Mark in ein und derselben Geschichte einführten. Was die Ableitung des Namens Isolt (Iseut, Esyllt, Ysolt, etc.) betrifft, und den Zeitpunkt seines Erscheinens in der Geschichte, fehlt es uns auch hier an befriedigenden Beweisen.
Indeßen, so wie man im Rolandslied leicht Spuren oder Sitten des zehnten Jahrhunderts identifizieren kann, bewahrt auch der Tristan des zwölften Jarhunderts Reminiszenzen oder Bräuche einer viel früheren Zeit. Zusätzlich zu dem offensichtlichen Beispiel des keltischen ‘arc Qui ne faut’ (der ‘Fehl-nicht Bogen’), finden wir auch, im Palast von König Mark, einen Bach, der durch Isoldes Zimmer fließt. Tristan verkündet Isolde seine Anwesenheit, indem er Holzspäne in die Strömung wirft, die sie bis zu dem Punkt trägt, wo Isolde sie sehen kann. König Marks Residenz ähnelt auch kaum einem Palast, so wie er von einem Erzähler des zwölften Jahrhunderts beschrieben worden wäre, eine Zeit, in der das feudale Zeremoniell notwendig Vorrang vor häuslicher Einfachheit hat. Sogar noch ältere literarische Reminiszenzen werden wach bei Tristans Kampf gegen den Drachen, und die Episode der herausgeschnittenen Zunge, die sehr dem Sieg von Perseus über Medusa ähnelt, und die Enthauptung der Gorgone. Perseus heiratet Andromeda, und Tristan gewinnt Isolde für Mark.
Die Theseus Legende vervollständigt diese klaßischen Erinnerungen. In beiden Fällen muß ein Tribut von jungen Menschen an Morhot gezahlt werden, und an den Minotaurus. Tristan, und Theseus treten vor, um allein mit dem Monster zu kämpfen; beide sind erfolgreich in ihrer Aufgabe. Aber die deutlichste Analogie ist vielleicht die folgende: Theseus soll im Fall von Sieg ein weißes Segel hißen; im gegenteiligen Fall, ein schwarzes Segel. Er vergißt, das Segel zu wechseln, und sein Vater, der auf ihn wartet, stirbt vor Kummer, als er das schwarze Segel sieht. Solche Ähnlichkeiten, und es gibt noch andere und weniger offensichtliche, bestätigen selbstverständlich, daß in der Geschichte von Tristan Elemente aus klaßischer griechischer Überlieferung vorhanden sind. Aber die Geschichte erinnert uns, daß Edgar XII., König von England - im Jahr 961 - den Tribut an Bargeld und Hornvieh, den ihm die Waliser jedes Jahr zahlen mußten, in eine Ladung von dreihundert Wolfsköpfen umwandelte; auch, daß dieser gleiche König eine Anzahl Verbrecher begnadigte unter der Bedingung, daß diese ihm eine der Schwere ihrer Vergehen entsprechende Anzahl von Wolfszungen ablieferten. Kann man in einem der Teratologie so nahestehenden Bereich vergeßen, daß die normannischen Schiffe - drakkars - einen Drachen als Gallionsfigur trugen?
Einige Gelehrte vertreten die Meinung, daß diese Themen Teil eines Erbes sind, das den griechischen, keltischen oder nordischen Mythologien gemeinsam ist. Andere, daß die Quelle dieser Legenden in den ersten Anfängen der irischen Literatur und besonders in der Geschichte von Diarmaid & Grainne mit ihren Entführungßzenen (aitheda) zu finden ist. Aber wichtiger ist die Tatsache, daß diese Analogien (Mark mit Eselsohren versehen wie Midas, oder marc, das keltische Wort für Pferd) keine eigentliche Auswirkung haben auf den Kern der Geschichte, das heißt, auf das Verhältnis zwischen Isolde und Mark, und die Konsequenzen, die sich aus dem Trinken des Liebestranks ergeben. Bei seiner Analyse der Quellen der Tristan Legende glaubt Pauphilet, Kerne keltischen Ursprungs festzustellen, die selbst eine Mischung früherer volkstümlicher Mythen darstellen könnten. Er zitiert das Beispiel einer Legende aus dem Tochmarc Emere (Die Werbung um Emere), die von dem Helden erzählt, der, auf dem Weg nach Irland, bei der Behausung des Königs der Inseln, Ruad, ankommt, in genau dem Moment, als die Iren an Land gehen, um den Tribut, den sie verlangen, einzuziehen. Der Held erfährt, daß die Tochter des Königs gerade Monster-Göttern, den Fomoren, als Opfer dargeboten worden ist. Das junge Mädchen ist am Strand und erwartet sie. Der Held gesellt sich zu ihr, kämpft mit den drei Monstern, und erschlägt sie; aber er wird von seinem letzten Gegner verwundet.
Die Königstochter verbindet die Wunde mit einem Fetzen von ihrem Kleid, und der Held verläßt sie, ohne seine Identität zu enthüllen. Das Mädchen erzählt ihrem Vater die Geschichte. Der König empfängt Fremde: der Held ist unter ihnen. Alle rühmen sich nach Kräften, die Fomoren getötet zu haben. Das Mädchen glaubt ihnen nicht. Sie läßt ein Bad vorbereiten, und an der Wunde eines der Gäste erkennt sie den Mann, der sie gerettet hat.
Der König bietet seine Tochter dem Helden an, der es vorzieht, sich mit der Prinzeßin in einem Jahr in Irland zu verabreden.
Nachdem er seine Stärke wiedererlangt hat, versucht der Held, Emere zu entführen, bleibt aber bis zu dem verabredeten Treffen erfolglos. Er begibt sich zum Ufer des Loch Cuan, von wo aus er zwei Vögel, die über dem Waßer fliegen, entdeckt. Mit seiner Schleuder holt er einen davon herunter. Die Vögel werden darauf in zwei sehr schöne Frauen verwandelt: die Tochter von König Ruad und ihre Begleiterin, die über diesen Empfang etwas aufgebracht sind. Mit den Lippen zieht der Held den Stein aus der Wunde, erklärt dann, daß er das Mädchen unmöglich heiraten kann, weil er ihr Blut getrunken hat, und verheiratet sie mit seinem Pflegebruder.
Der Name des Helden ist Cu Chulainn, und als Begleiter hat er einen gewißen Drust, deßen Gegenwart in der Geschichte nicht erklärt wird und der sonst in dieser Gruppe von Legenden (es gibt übrigens eine große Zahl paralleler Versionen der Taten von Cu Chulainn) unbekannt ist.
Man hat vorgeschlagen, daß dieser Drust nicht Statist, sondern vielmehr die Hauptperson einer verlorengegangenen Sage war, und daß im Tochmarc Emere Drust nicht mehr als unwesentliches Requisit, wenn nicht sogar ganz einfach ein Anachronismus in der eigentlichen Geschichte ist. Auf jeden Fall ist es intereßant zu sehen, daß ein Drust (Drostan oder der Drystan der Waliser) im Zentrum von Abenteuern steht, die denen der Tristan Geschichte so bemerkenswert ähnlich sind: der Tribut, der Kampf mit dem Monster, das Heilen der Wunde, die Szene im Bad, die Identifizierung des Siegers, die Belohnung und ihre Zurückweisung, die Abreise und die Wiederkehr des Auserwählten, das Außaugen der Wunde (Ur-Form von Inzest oder Liebestrank?), dann Eheschließung mit einer anderen Frau.
Angesichts unserer begrenzten Kenntniße ist es schwierig, das allmähliche Wachsen der Tristan Legende zu verfolgen. Eine Theorie ist, daß ein irischer Mönch Geschehniße der klaßischen Mythologie in eine Erzählung verwoben hat, die aus einer Folge von lais (laid oder loid) oder Gedichten besteht, die in den alten irischen Sagen die lyrischen Paßagen von der Litanei der eigentlichen Erzählung abheben. Diese gleichen Sagen informieren uns auch über die engen, und dauerhaften Bande zwischen unserer irdischen menschlichen Welt und der Anderen Welt, und den häufigen Austausch, der zwischen beiden stattfindet: Götter und Feen mischen sich unter die Menschenmengen an saisonbedingten Festlichkeiten, während Menschenwesen, manchmal Opfer von Aitheda oder unter dem Zwang des einen oder anderen Banns (Geis), sich zu den Zauberinseln der Anderen Welt begeben, die erst am Ende langer Seefahrten (Imrama) oder Reisen im Erdinneren erreicht werden können wie im Fall des unterirdischen Königreichs der Tuatha de Danann, Elfen, die vor Zeiten Irland bewohnten und eifersüchtig über die Traditionen der alten und dunklen Zivilisationen wachten.
Was auch immer das exakte Alter der Geschichte von Tristan ist, man muß sie in erster Linie als eine Sammlung von Mythen akzeptieren; Mythen von Vögeln zum Beispiel, die sich in Frauen verwandeln. Dies ist ein Motiv, das sich in gewißen Versionen der Legende von der Gralsgeschichte (der von Esclarmonda unter anderen) findet, selbst wenn es nicht ausdrücklich in Berouls Tristran vorkommt, wo indeßen König Arthur und seine Ritter in die Schranken treten und auch wo - selbst wenn die Mitglieder der Gesellschaft für Flache Erde in London (auf dem Planeten Astria angesiedelt, wo es rechts und links gibt, aber kein rauf und runter?)
‘... la Table Ronde
... tornoie comme le Monde’
‘... der Runde Tisch
sich dreht wie die Welt.’
Es ist daher überraschend, das Motiv der Vogel-Frau in diesem Kontext eliminiert zu sehen, vielleicht wegen seines Märchen Charakters, in einer Geschichte, in der selbst die Drachen sich einer solchen Vitalität erfreuen, daß niemand überrascht wäre, sie ab vom Wege zu treffen, wie es einem jeden Besucher auf der Insel Komodo geschehen könnte.
Andere ursprüngliche zentrale Stücke sind wahrscheinlich die Szene mit dem Vogel, der die Strähne von goldenem Haar auf Marks Ärmel fallen läßt und Isoldes Ankunft in der Bretagne, als sie zu dem sterbenden Tristan stürzt. Sie ist so schön, daß das Volk, beim Anblick ihrer Schönheit, denkt, daß die Königin niemand anderes als eine Side sein kann, mit anderen Worten eine jener Damen aus der Anderen Welt, die gemäß der keltischen Legende auf diese Seite kommen, um Männer zu bezaubern und zu verführen; sie unterscheiden sich von anderen Frauen, ihr fließendes blondes Haar und ihre geheimnisvollen wie auch zauberischen Stimmen verraten sie manchmal.
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