Die Anfänge der Tristan-Sage verlieren sich im Dunkel vergangener Zeiten. Der Eindruck, den die Geschichte von Tristan und Isolde heute vermittelt, ist gekennzeichnet von jenem urtümlichen und bitteren Geschmack, der sie von der Artigkeit unterscheidet, die für den dominierenden höfischen Idealismus des ausgehenden zwölften Jahrhunderts charakteristisch ist. War es speziell dieses Gefühl, das Pauphilet veranlaßt hat, in seiner schönen Studie “Le Legs du Moyen Age” (Das Vermächtnis des Mittelalters) zu schreiben : ‘Nichts in der mittelalterlichen Literatur ist zugleich kostbarer und peinlicher; alles ist Zauber und Schönheit, zeitlose menschliche Natur; aber es ist auch problematisch, enigmatisch. Die zugänglichste von unseren alten Romanzen ist gleichzeitig für den, der in die Tiefe gehen möchte, die am schwierigsten zu faßende ...’?
Vielleicht gab es eine erste Version der Tristan-Sage vor 1150 ; aber die Popularität des Themas stammt aus der Periode zwischen etwa 1160 und 1190, als mehrere schriftliche Texte zu diesem Gegenstand produziert worden sind, Texte, die etwas willkürlich in französische und nicht- französische Versionen eingeteilt werden können.
Zwei Autoren illustrieren die erste dieser Traditionen: Beroul und Thomas. Die Version von Beroul umfaßt 4485 Zeilen, in denen die Geschichte von den Abenteuern der Liebenden nach dem Trinken des Liebestranks, und vor dem Tode Tristans erzählt wird. Die Version von Thomas ist in fünf Fragmenten erhalten; deren wichtigstes das Ende der Geschichte erzählt, das heißt den Tod von Tristan und Isolde. Die beiden Erzählungen sind so unterschiedlich, daß Joseph Bédier sich entschied, die Materialien zu der von ihm erstellten Rekonstruierung des Werks von den ausländischen Übersetzungen und Nachahmungen der Thomas-Version zu übernehmen: ‘noch ein Viollet-le- Duc’ nach Meinung der Befürworter von Restaurierung.
Es scheint, daß die Prosa-Version der Legende, die etwa auf die Jahre 1215 bis 1230 zurückgeht, sich direkt an einem originalen Manuskript oder Archetyp, dem Ur Tristan, inspiriert hat, ein Nebel - laut Gaston Paris - von anekdotischen Gedichten (’lais’) mit mehr oder weniger klar definierten Konturen, oder aber eine ausgewachsene Romanze, ein verlorener Archetyp - das ist die Meinung von Joseph Bédier - der die direkte Quelle von Beroul, Thomas und auch von ihren Nachfolgern war.
Unter den nicht-französischen Versionen kommt Eilhart von Obergs Tristrant, der von Beroul benutzte Quellen zu haben scheint, und den ausländischen Transkriptionen des Werkes von Thomas, die im zeitgenößischen Europa sehr erfolgreich waren, ein Ehrenplatz zu: die norwegische Sage von Tristram ok Isönd und der Tristan von Meister Gottfried von Straßburg, und der beiden, die seine Tradition fortführen: Ulrich von Türheim, und Heinrich von Freiberg. Der Text von Thomas hat auch die englische Prosa Version Sir Tristrem, und die Tavola Ritonda, italienische Prosa Version der Geschichten der Table Ronde, die die Geschichte von Tristan einschließt, inspiriert.
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