“Fremd bin ich eingezogen
Fremd zieh’ ich wieder aus.”
(Winterreise n° 1)
Alles in allem bleibt die Schlüßelfrage, vor der jedes Theoretisieren und jede Sophisterei vergeht: “Quo vadis?” Der Wegweiser (WR n° 20) bringt dem Menschen, diesem ewigen Wanderer, nur eine Teilantwort, weil der Wegweiser im wesentlichen Teil des Landschaftsbildes ist und ein Gefühl von Sicherheit, von Fortdauer, von der Unveränderlichkeit der Dinge gibt, selbst wenn er vage irgendwo in die Richtung des nächsten Dorfes oder der nächsten Stadt zeigt, in die Richtung von Wien und seinem allgemeinen Spital, in die von Prag oder Voltaires Bulgarien (“Candide marschiertelange, ohne zu wissen wohin; weinte, hob die Augen zum Himmel: er legte sich ohne Abendessen mitten in den Feldern zwischen zwei Furchen nieder; der Schnee fiel in dicken Flocken...”) oder vielleicht so weit wie Konstantinopel und zum Sultan Murat III, dem Königin Elisabeth I. beschloß, im Hinblick auf eine Allianz mit dem mächtigen osmanischen Reich, “ein großes und merkwürdiges Geschenk “zu senden” ; eine mechanische Orgel, die einen Trommelwirbel, Fanfarenklang und verschiedene Weisen, selbständig gespielt, zu Gehör bringen konnte”. Dallam, ein Orgelbauer aus Lancashire, war ihr Leiermann.
“Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn” (WR n° 24) pflegte Wilhelm Müller zu fragen, der sich voll bewußt war, daß seine Verse nur mit Musik wahrhaft abgeschloßen wären, schrieb er doch: aber, getrost, es kann sich ja eine gleichgestimmte Seele finden, die die Weisen aus den Worten heraushorcht und sie mir zurückgibt” (W. Müller, Tagebuchnotiz vom 8. Oktober 1815). Ein kunstlerisches Testament, das Schubert, der die ganze Winterreise vertont und seinen von Ehrfurcht ergriffenen Freunden vorgesungen hatte, widerhallen ließ: “Mir gefallen diese Lieder mehr als alle, und sie werden euch auch noch gefallen”. Dreißig Jahre nach Schuberts Tod, fügt Josef von Spaun hinzu: “und er hatte recht ... Schönere deutsche Lieder gibt es wohl nicht, und sie waren sein eigentlicher Schwanengesang”.
Das Klima klaustrophobischer Verzweiflung, das Problem des Absurden als ein Spannungszustand, hervorgerufen durch den Widerspruch zwischen natürlicher menschlicher Neigung zum Glücklichsein und der kalten teilnahmslosen Welt (WR N° 3), diese aus Einsamkeit, aus einem Gefühl der Verlaßenheit (WR N° 12) geborene Einstellung, die noch nicht zu Bitterkeit geworden ist oder zur Verneigung natürlicher menschlicher Geselligkeit geführt hat, all das finden wir in Müllers Sieben und siebzig Gedichten aus den hinterlaßenen Papieren eines reisenden Waldhornistenvon 1821, Ludwig Tieck gewidmet, und Die Schöne Müllerin enthaltend, und in seinen Gedichten aus den hinterlaßenen Papieren eines reisenden Waldhornisten von 1824, Carl Maria von Weber gewidmet, “dem unsterblichen Meister deutschen Gesangs”, mit dem vollständigen Text der Winterreise, die Schubert 1827 entdecken wird. Wilhelm Müller, norddeutscher Dichter und Gelehrter, hat von Schuberts Vertonung seiner Gedichte nie etwas gewußt, noch den Wiener Assistenzschullehrer und Komponisten die Winterreise singen hören mit “hoher Stimme” voller Bewegung, so das niedere Metall der Erfahrung in musikalisches Gold transmutierend, in einen Schatz spontan lyrischer Melodie im Einklang mit jener gemächlichen Geräumigkeit, die vom Donaubecken, den Ebenen Ungarns oder den schneebedeckten Gipfeln der österreichischen Alpen ausgeht, mit der Verzückung und Schmerzlichkeit erster Empfindungen, die nicht leicht in Beziehung gebracht werden können zu Alter, Erfahrung oder Charakter des Komponisten .
Schöne deutsche Lieder waren sie in der Tat, da Wilhelm Müller (der vielen als ein Vorläufer von Heine erscheint), voll Lob für das Volkslied und Goethes Wein-Dichtung, milde Erotik, Geselligkeit und ‘deutscher Sang’, Müller, der Philologe, assozirert war mit der Gesellschaft für deutsche Sprache, eine Gesellschaft, die die Kontinuität von ‘Einer Poesie’ postuliert hatte für die Deutschen, die sich schon für die Forschungen der romanischen Philologie interessierten: A. W. von Schlegel (1818), Raynouard, Fauriel und andere über die Troubadoure (und Fin’ amor), um die Schätze einer sterbenden europäischen mündlichen Kultur zu bewahren.
Schöne deutsche Lieder, beherrscht — seit den Zeiten Homers — von der Idee des ewigen Wanderers und des Reisens. Das Leben wird als eine Reise gesehen, die von göttlichem Gesetz geregelt wird, nach dem sich der Mensch richten muß, wenn er Ruin zu vermeiden wünscht; es wird gesehen als jenes rechte Ordnen von öffentlichem und privatem Leben, das wir in der Almanach-Literatur finden, im Pastoralen und in der Legende einer der Industrialisierung vorausgehenden Ära der deutschen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts mit ihren aufwendigen Höfen, arrogantem Adel, schüchterner Mittelklasse und einem Bauernstand, unfähig, sich auszudrücken (WR n° 17); darauf folgt eine Art Revolte gegen diese Ordnung, eine Suche nach Freiheit vom Zeitalter der Aufklärung, hin zum Zeitalter des Verstehens, das eine neue Welt eröffnete, in der das kreative Volk der Held-oder Anti-Held- werden sollte, während die intellektuelle Hegemonie Europas um die Jahrhundertwende von Frankreich auf Deutschland überging.
Wenn Musik mit ihrer Macht, Sinnlichkeit auszudrücken, am anderen Extrem zu jeglicher Sprache steht (Müllers Dichtung nicht ausgenommen) — obwohl beide das Ohr ansprechen —, Sinnlichkeit in all ihren vielfältigen Emotionen, nicht zuletzt der erotischen, wenn Musik das abstrakteste aller Medien ist, weil am weitesten entfernt von temporaler und vernunftmäßiger Dialektik (d.h. nicht durchdrungen vom historischen), hallt die Winterreise im Rückblick wider hinterhältiger Sinnlichkeit mit den Erinnerungen des Komponisten an seine unglucklichen Lieben (WR n° 2).
Wer war denn Schuberts “ferne Geliebte” ? Was es Katharina von Làsny, ex-Sopran des Kärnter Tor Theater, Wien, oder Sophie Müller, die Die junge Nonne am 3. März 1825 sang; war es Pauline Anna Milder – Hauptmann (1795-1838), mit der Schubert und der Bariton Michael Vogl (1768-1840) in Hietzing zusammentrafen und die Erlkönig in Berlin sang oder Marie-Koschak Pachler (An sylvia) ; war es Anna Fröhlich – und ihre Schüler – die die Premiere von Ständchen (D. 920) in Döbling gab oder war es, an erster Stelle, aber nicht zum wenigsten Karoline von Esterhàzy in Zseliz, Ungarn ?
Vogl lo sa, non lo dirà…
Diese Sinnlichkeit, immer gegen wärtig in der Winterreise trotz jener Blitzemoderner Erkenntnis, daß das Leben an de oberfläche des Geistes, eingesperrt in ein rationales Bewußtein seiner selbst, keine eigentliche Verteidigung gegen die versteckten Kräfte unserer Natur, ist (WR n° 15), gegen eine Welt visionärer (nicht mystischer) Erfahrung, so wie sie in allen kulturellen Traditionen bewarhrt wird, in den Himmeln und Feenländern von Folklore und Religion, gegen ein Reich von faszinierender Illusion (WR N° 9), eine Art leuchtende, nichtmenschliche “Andersheit ” (WR n° 23, um es nicht Weltschmerz oder Misanthropie zu nennen, diese Sinnlicheit zieht an und bezaubert jene, die sich an den Grenzen normaler Persönlichkeit reiben; eine merkwürdige “Andersheit” , die schon in The Seasons zu fühlen war, einem Gedicht von James Thomson (1700-1748), ein Werk, das Epoche machte in England, Deutschland und Frankreich, Rußland nicht auszulassen “zurückgelehnt auf Schlitten sitzt der bepelzte Ruße”), Thomson, der sich selbst beschreibt als: “einer, dem die fröhliche Jahrezeit nicht gefiel und der des Sommers grelles Liche vermied ” und es auf diese Weise Roberts Burns ein halbes Jahrundert später ermöglichte, inständig zu bitten;
“komm, Winter
deine Dusternis wird meine freudlosen Seele Linderung geben,
wenn die ganze Natur so traurig ist wie ich !”
Ganz zu schweigen von nachträglichen Gedanken und frischen Entdeckungen des gegen- wärtigen Jahrhunderts, vom Punkt auf den i’s und dem Querstrich bei den t’s, die der Purist auszuführen geneigt sein mag, dem Aufspühren technischer Mittel, wie die Wahl von Schlüßeln, außer-musikalischen Quellen im Text der Lieder oder Einflußs (Beethoven, Haydn, Gluck, Mozart, Clementi, abgesehen von Goethe als Liedermacher, der Zelter Schubert vorzog, weil Zelters Vertonungen die Musik zur fast niederen Dienerin der Dichtung machen), das historische Pendel wird immer von Analyse wegschwingen, und trocknener Analyse obendrein, hin zu den Abenteuern der Seele unter den Meisterwerken, weit entfernt von der “ägerlichen click-clack Symmetrie in der Melodie eines so großen Anteils des klassischen deutschen Lieds”, mit den Worten von Kaikhosru Shapurji Sorabji (o Josef von Spaun !) ; eine Feststellung, auf die Leopold von Sonnleithner schon geantwortet hatte “Ich hörte ihn mehr als hundertmal seine Lieder begleiten und einstudieren. Vor allem hielt er immer das strengste gleiche Zeitmaß ein, außer in den wenigen Fällen, wo er ausdrücklich ein ritardando, morendo, accelerando, etc. schriftlich angezeigt hatte. Ferner gestattete er nie heftigen Ausdruck im Vortrage. Der Liedersänger erzählt in der Regel nur fremde Erlebnisse und Empfindungen, er stellt nicht selbst die Person vor, deren Gefühle er schildert ; Dichter, Tonsetzer und Sänger müßen das Lied lyrisch, nicht dramatisch auffassen… Alles, was den Fluß der Melodie hemmt und die gleichmäßig fortlaufende Begleitung stört, ist daher der Absicht des Tonsetzers gerade zuwiderlaufend und hebt die musikalische Wirkung auf ”.
Wenn Musik wirklich “die Nahrung der Liebe ist”, so wird sich Schubert, frustrierter Liebender und frustrierter Opernkomponist (cf Alfonso und Estrella , 1821-22, und die Arie von Troila, die wiederscheinen wird als Täuschung in WR n° 19), der Komposition von Liedern zuwenden in seiner Suche nach Reiner Liebe und in einer Art lang fortschreitender Selbst-aufopferung (die nichts mit einem Pilgrim’s Progress zu tun hat) von Tavernen zu Tavernen (Zum Schloß Eisenstadt, Dornbach, Zum Kaiserin von Österreich nicht weit von Wien, Zum roten Kreuz, Zum grünen Anker Nähe Stephansdom oder Café Bogner, unter anderen) hinunter zum letzten Wirtshaus (WR n° 21), das heißst Friedhof Währing und seinen immerwährenden Epitaphen, die sehr oft versuchen, die zwei Seiten der Einstellung zum Leben zu verschmelzen, einerseits ein williges und mutiges Akzeptieren der Möglichkeiten wie auch der Probleme des Lebens (WR n° 22) und andererseits eine tiefe, oft bewegende und anscheinend unausrottbare geistige Verzweiflung (WR n° 16).
In der Winterreise werden die uralten Tragödien von Liebe und Tod eingefangen und erhalten jenen musikalischen Ausdruck, der Erfahrung bereichert; es wird gesagt, was normalerweise nicht gesagt werden kann; ihre Grundwahrheit wird bestätigt in dem scheinbar beiläufigen Fall einer Kadenz oder dem vermehrten Gebrauch von Tonarten in einer Art Glaube, der so empfindlich und so sicher ist wie eine Kompaßnadel, auf dem Weg zu einem Zustand von prae-lapsus Gnade, d.h. reine Musik, jenseits aller Form von Nichtsein, da, wie der Dichter sagt:
“Die Stadt gebaut ist
zu Musik, daher nie gebaut worden,
und daher für immer gebaut ”.
CLAUDE D'ESPLAS - Die Musikstunde
ALL RIGHTS RESERVED
Übersetzung Dagmar Coward Kuschke - Tübingen
|