Conservatoire National Supérieur de Musique de Paris (14, rue de Madrid)
Als dieser “charmante Schelm” von Cherubin - es ist Susanna, die spricht - erschrocken, aber fest in der Wade, aus dem Fenster von “Figaro Haus” springt, will die Geschichte nicht, dass er auf das schlammige Trottoir der Schulerstrasse in Wien fällt, sondern lieber mitten in ein Kohl- oder Himbeer-Beet wie die Erzherzogin von Schönbrunn, genau diejenige, die der “Schelm” Mozart - als solcher vom Landesherrn von Salzburg behandelt - so gut fand, dass er sie heiraten wollte, ein Beet wie Marie-Antoinette von Österreich, wenn man das vorzieht, es hatte entwerfen lassen innerhalb der Einfriedungen, die die Häuschen des kleinen Dorfes der Königin umgaben, am Rand der Teiche, wo die “Schöne Müllerin” des Petit Trianon die Hechte und Karpfen vorbeigleiten sah, die füglich in diese ruhigen Wasser gebracht worden waren, in Ermangelung der Forellen ihrer Wiener Landschaft, während die Musiker der Gardes Françaises mit ihren leichten Tönen das Geschnatter der Fêtes Galantes unterstrichen, an denen man die Königin als Wirtin eines Gartenlokals sah und Carlin und Dugazon Elster und Truthahn spielten (versteckt in Formen aus Korbgeflecht) und wo man an kleinen Tischen dinierte, die der Prinzessin Lamballe und der Herzogin von Polignac natürlich im Brennpunkt der Blicke :
“Von ihren Hofdamen
war Jule die schönste,
Jule mit ihrem Talent lehrte schnell Toinon”
(oh Fersen !), laut Einfaltspinseln und Geschichtenschreibern jener Zeit, die heutzutage zur Hölle der Bibliothèque Nationale verurteilt sind.
Dieselben Musiker der Gardes Françaises werden Madame Bonaparte begrüssen, die Kaiserin und Mademoiselle de Beauharnais, die Königin von Holland, eifrige Besucherinnen der Konzerte der Eleven, und manchmal selbst den Ersten Konsul, der in der zentralen Loge des Prüfungssaals des Institut National de Musique stand, da Bernard Sarrette, Hauptmann der “besoldeten” Nationalgarde (und so den Wunsch des Schauspielers-Deklamierers Lekain erfüllend) von der Konvention fünfundvierzig Musiker bewilligt bekommen hatte.
Die letzten Unterrichtsstunden in Cherubinis Vieux Conservatoire fanden am 24. Dezember 1910 statt. Mitglieder der Prüfungskomissionen waren nacheinander Thomas, Got, Delaunay, Halévy, Dumas, Sardon, die alle die “Hoffnungen” anhörten, während ein neuer Direktor erwartet wurde, von dem man sagte, dass er aus Pamiers käme (wie Léonard, der Friseur von Marie-Antoinette).
Der Unterricht wird am 4. Januar 1911 wieder aufgenommen in den neuen Räumen der rue de Madrid, zwei Schritte vom “ewigen Gare Saint-Lazare” (Fauré) entfernt; Räume, in denen man die gebrauchten grünen Teppiche und die fadenscheinigen Canapees des vorherigen Etablissements wiederfindet, da sie mit den Farbtönen des Gipses in dem neuen Hause harmonieren (Die liebe Farbe, von Schubert geschätzt?). Die Bibliothek und ihr reich ausgestattetes Museum sind gefolgt: dort findet man immer noch Seite an Seite die Harfen von Marie-Antoinette und Mme Lamballe und das von Pauline Viardot gestiftete Manuskript von Don Giovanni .
Die Sorge für die Akustik wurde dem Regierungsarchitekten Blavette übertragen - Mozart, der gern Architekt hätte werden wollen, bevor er mit der Architektur der Töne Erfolg hatte, stand nicht zur Verfügung -, Blavette, der nicht mit Korkauflagen geizt (in dem ehemaligen Conservatoire nahm man kein Echo war !). Im Büro des Direktors sind die Intrigen in vollem Gange, wenn man dem Briefwechsel Fauré/Paul Viardot zum Thema Conseil Supérieur glaubt.
In den Korridoren laufen die Cherubine einer Liebe nach, die, kaum entzündet, schon wieder erloschen ist; die nicht wissen, wohin gehen und was machen (“Non so più cosa son, cosa faccio”) angesichts dieses “Gefühls, das weniger als Liebe ist und ihr benachbart” (Mme de Genlis), oder der Bisse dieser seltsamen Krankheit, die verrückt macht (oh Schreck!); Cherubine, die ihre schönen Partnerinnen, die es wissen, befragen (“Voi che sapete che cosa è amor...”), eine Krankheit, die der kleine Jehan de Saintré (13 oder 14 Jahre) erfahren hat oder der junge Schildknappe von Il était temps (Theaterstück von Rochon de Chabannes, imitiert von Lessing) oder der kleine Cousin Lindor de Heureusement, “ein reizender Schelm” laut Madame Lisban, deren Kammerzofe Marthon feststellt, dass er “uns sein Bein, seine Wade zeigt”, so wie Constanze Weber sich - gleichsam als Unterpfand - vom erstbesten “Hut” die Wade messen lässt, und das zum grossen Ärger von Wolfgang Amadeus: “Keine Frau, die etwas auf sich hält, macht das; nur die Frauen, die das et cetera mögen” (Brief an Constanze Weber vom 27. April 1782).
Erwähnen wir noch den Petit Louis aus dem Haus der Choiseul, in der Touraine, dessen Abenteuer die Schweiz Voltaires und das England Walpoles erreicht hatte und dessen “Zärtlichkeiten von Tag zu Tag dringender werden”, wie es Mme de Choiseul der marquise du Deffand gestand; ein Abenteuer, das Beaumarchais (der Interessen in Vouvray hatte) vielleicht an seine eigene stürmische Jugend erinnerte, hatte er doch mit 13 Jahren
“von einer liebenswürdigen Gefährtin,
die tausend Annehmlichkeiten
mit Geist und charmanten Zügen verbindet”,
geträumt, während ihm Madame Beaumarchais-Mutter vorhersagte:
“Ah mein Sohn, mein lieber Sohn,
was werden sich die Frauen von Paris
mit dir wohlfühlen.”
In Erinnerung an die “ ardente flamme”, die, von Versailles nach Wien, von Bougival nach Moskau, überZwickau oder Grenoble, den Cherubin-Berlioz bei Mme Fornier verzehren wird, so wie sie den Cherubin-Mozart oder den Cherubin-Schubert (“Ich habe lange eine Frau geliebt, und sie liebte mich auch. Ich liebe sie immer noch, und keine andere Frau hat mir so gut gefallen wie sie. Sie war nicht für mich bestimmt !”) oder der Cherubin-Schumann von Mme Agnès Carus, oder der Cherubin-Verdi von Mme Strepponi oder der Cherubin-Fauré von Mme Viardot, die Liebe bleibt also der gemeinsame Nenner der Stücke an diesem allerletzten Lieder-Abend im Saal Fauré, die spitzbübische, tragische, humoristische, mütterliche, mystische, manchmal weit entfernte (Leconte de Lisle) Liebe, manchmal ketzerisch (wie in dem Land von Gabriel Fauré und Armand Silvestre), eine Liebe, die man wiederfindet, gemurmelt oder blossgelegt, in der Gesangslinie der Lieder oder Melodien oder in der Verschmelzung mit der zweiten, pianistischen, Stimme (Mozart, Schubert, Clara Schumann, Fauré, sangen zu ihrer eigenen Begleitung); eine Liebe, die die jungen Herzen in Brand setzt oder die die Flamme der verzweifelten Faust und Margarete, immer noch auf der Suche nach der vollkommenen Wesenheit, neu belebt (diese Fin’ amor der grossen Troubadoure?); eine Liebe, wie sie ausgesendet wird durch das Medium einer Stimme, die hundert Werst von den von Mozart angeprangerten “beweglichen Kehlen”, hundert Meilen von den von Fauré verabscheuten “zarten Kehlen” entfernt ist; eine Liebe, die eingefasst ist in die modulierten Arpeggi des am besten ausgeführten Instruments von Sachsen, der “August Förster 1943” in Zwickau, im Gegensatz zu diesen “Nähmaschinen” oder “Pianösen” (oh ! Yves Nat), Kopien der Leistungen eines Clementi, der “nicht für einen Kreutzer Gefühl oder Geschmack hat, mit einem Wort, einfacher Mechanicus”, gemäss der schönen Definition von W.-A. Mozart (Brief an seinen Vater, Wien 12-01-1782) oder der Grosstaten einer Bernasconi, die auf der Basis der vom jeweiligen Direktor angebotenen Summe “ein gutes Komma zu hoch” (oder “eine Viertelnote zu hoch”) singt (Wien, am 27-06-1781, W.-A. Mozart an seinen Vater).
Die gepolsterten Türen des Saals Fauré öffnen sich also halb ein letztes Mal, vielleicht aufgestossen von einem interessierten Direktor, der da “gute alte Sachen” erkennt, interpretiert von einer Stimme, “die keiner anderen gleicht”, es sei denn derjenigen, die, jenseits der brennenden Flammen, die amour vrai wiederfindet, so wie sie eines Tages im Heimatland von Gabriel Fauré geboren wurde.
Claude d'Esplas, (Die Musikstunde)
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Übersetzung : Dagmar Coward Kuschke (Tübingen)
Discographie
Salle Gabriel Fauré (Mozart, Fauré, Schumann, Schubert, Verdi, Berlioz)
CD ADG/Paris 1998 - n° 98001
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