Bevor wir unsere ungeteilte Bewunderung den Werken der Trouvere zuwenden, ist festzustellen, wo diese ihre Quellen hatten. Am Ende des elften Jahrhunderts, während der Blütezeit der Epen Nordfrankreichs und seiner Bewohner, der Francigenae, gab es im Pays d’Oc schon lyrische Dichtung. Guillaume de Poitiers, geboren 1071, Graf von Poitiers und Herzog von Aquitanien, der “erste” der uns bekannten Troubadoure, hat uns die “ersten” in Europa verfassten lyrischen Verse hinterlassen. Wahrscheinlich war er nicht der erste; er hat nicht einfach die lyrische Dichtung erfunden; er hat sicher Vorgänger gehabt; aber die von ihm gezeichnete Dichtung ist wichtig, weil sie von dieser Zeit an die fiktiven Grenzen überschritten hat, die den Austausch von Ideen innerhalb einer
Feudalwelt, die mehr auf einem System von Kasten und Verbindungen zwischen regierenden Familien beruhte als auf der Idee stolz unabhängiger Nationen, nicht verboten haben; einer Welt, die im übrigen den Edikten einer politisch-ideologischen, wenn nicht gar sprachlichen Oberherrschaft unterworfen war : der des Hofes zu Rom.
Die Langue d’Oc, strahlend von Anfang an, von Portugal bis Sizilien - ihre ältesten Denkmäler gehen ins zehnte Jahrhundert zurück - erreicht zur Zeit der Troubadoure einen ausserordentlichen Höhepunkt, bevor sie einen schnellen Verfall erlebt, allerdings keinen totalen - trotz aller Anstrengungen, sie zu neutralisieren (Albigenser Kreuzzug, fortschreitender Anschluss der verschiedenen Teile des Pays d’Oc an die Krone, der im Namen der französischen Revolution von Priester Gregor geführte Kreuzzug, etc.) : hätten nicht Dante und Montaigne selbst sie beinahe angenommen ?
Die Langue d’Oc nannte sich zunächst wie alle romanischen Sprachen “Romanisch”, d.h. die Volkssprache im Gegensatz zum Latein, der Sprache der Eindringlinge und der Schreiber (“Et en romans et en lati” - dieser von Wilhelm IX. stammende Ausdruck weist auf die doppelte sprachliche Zugehörigkeit hin), dann “Provenzalisch”, die Sprache der römischen Provinz, gesprochen von den Provinzbewohnern, deren Territorium sich von den Alpen bis nach Narbonne erstreckte.
Wir müssen auf das sechzehnte Jahrhundert warten, um in Italien die Entwicklung wissenschaftlicher Forschung im Bereich der romanischen Sprachen und Literaturen, darunter besonders der des Pays d’Oc, zu beobachten; dann die Arbeiten (1816 - 1823) von Raynouard, Mann des Gesetzes, Rechtsanwalt, Abgeordneter während der Revolution, und die von Rochegude (1819), Kapitän, die beide Anthologien okzitanischer Literatur von grösster Bedeutung veröffentlicht haben, ausserdem Glossare und Handwörterbücher, die auf bewundernswerte Weise von Honnorat (1860), Mistral (1880) oder Simin Palay (1932) vervollständigt wurden; parallel dazu die Arbeiten der deutschen romanischen Philologie, die die erste kritische Ausgabe von Mireille herausbrachte, einem Werk, das Frédéric Mistral die Anerkennung der Akademie von Schweden und den Nobel-Preis einbrachte. So war bewiesen, wie Villemain und Lamartine vorausgeahnt hatten, dass Frankreich reich genug ist, um zwei Literaturen zu besitzen ...
Abgesehen vom Anfang des Cligès, in dem Chrétien de Troyes den Leser daran erinnert, dass er schon früher “del roi Marc et d’Iseut la Blonde” geschrieben hat, und von gewissen Kritikern, die die Meinung vertreten, dass Tristan auf Französisch oder auf Latein (aber warum dann nicht “auf Romanisch und auf Latein” ?) gedichtet worden ist, haben wir die ersten uns bekannten Hinweise auf die Geschichte von Tristan und Isolde - mit Ausnahme des Lai du Chevrefoil (la Chievre ?) von Marie de France, die oft die Geschichte gehört und sogar gelesen hatte, Geschichte
De Tristram e de la reïne,
De lur amur ki tant fu fine,
Dunt il eurent meinte dolur,
merkwürdigerweise von einigen bedeutenden und höchst individualisierten Troubadouren, als da sind
Bernart de Ventadorn :
“Plus trac pena d’amor
De Tristan l’amador
Que’n sofri manhta dolor
Per Iseut la Blonda”,
der in einem Chanson d’Amour seine Schmerzen mit denen Tristans, der viel wegen Isolde der Blonden gelitten hat, vergleicht;
Raimon de Miraval :
“Non ac la bell’ a cui servi Tristans”
(Be m’agrada i bels tems d’estiu”),
Miraval oder der Anonyme :
“Plus que no fo per s’amia Tristan”
Peire Cardinal :
“E Tristantz fon de totz los amadors
Lo plus leals e fes mais d’ardimens”
(cobla)
Raimbaut d’Aurenga :
“Tristan, quan la ‘il det Yseus gens
e bela, no’n saup als faire”.
Hinzufügen müsste man vielleicht den Troubadour Cercamon in Ab le Pascour, der so sicher gaskonisch war wie das Pferd von König Mark.
Erinnern wir uns im übrigen daran, dass das Thema von Tristan in erster Linie durch eine Liebesauffassung charakterisiert wird, die die Liebe als Leidenschaft sieht, eine vornehmlich zerstörende Kraft, die das Individuum aus der gesellschaftlichen Ordnung und den Gesetzen, die diese Ordnung im höfischen Sinne regieren, d.h. die verlangen, dass der Liebhaber sich vollbewusst, ohne die Hilfe eines Stärkungsmittels auf Pflanzenbasis, den Köstlichkeiten der Liebe hingibt, löst.
Da wir andererseits allen Grund haben, die Erklärungen von Béroul, Thomas, Gottfried und anderen, in denen sie die alleinige Echtheit ihrer jeweiligen Darstellung bekräftigen und kaum Hehl aus ihrer Verachtung für die Erzählungen zweifelhaften, d.h. nicht-kanonischen Ursprungs, machen, nicht wörtlich zu nehmen, ist es nötig, wenn man den Eid “Je vos pramet par fine amor” (Ich verspreche es euch aus Fine Amor), verstehen will, dass wir uns auf das im Text erscheinende Beweismaterial beziehen, Schlüssel der Dominanten in der damaligen Diskussion über das Konzept fin’ amor, eine Lehre vom Gefühlsleben, deren Umrisse besser definiert erscheinen als die von amour courtois (höfische Liebe) und die der allen Dichtern in der Langue d’Oc und ihren lyrischen Nachfolgern im Mittelalter gemeinsame Gefühlsnenner gewesen zu sein scheint. Das Wesen dieser Lehre stellt sich dar in der Anbetung eines in einer Frau verkörperten oder auf eine Dame bezogenen Ideals.
Tatsachen und Gefühle gehen in der mittelalterlichen Terminologie der Gesellschaftsgeschichte oft in einander über, und viel Tinte ist über das stets neue Auftauchen bestimmter Schlüsselworte in ein und derselben Gruppe von Dichtungen, insbesondere der der Troubadoure, geflossen; Schlüsselworte, Zeugnis ablegende Kernpunkte, für die fin’amor und ihre assoziierten Begriffe - amor, amars finamens, bon’amars, amor de lonh, fol’amor, fals’amor - das eigentliche Beispiel darstellen.
Öffnen wir die grundlegende Grammatik des zwölften Jahrhunderts, das heisst die, die von der Liebesauffassung handelt.
Was ist “Liebe” nach Béroul? Zuerst und vor allem der physische Kontakt (accole la, cent fois la besse) zwischen zwei engumschlungenen (estroited embrachiez) nackten (toz nus) Körpern gemäss den unausweichlichen Gesetzen der universellen Anziehungskraft oder auf Grund gewisser Verpflichtungen, die den Grossen dieser Welt zufallen: für König Mark, der abrupt den Sitzungssaal verlässt, sind die Regierungsgeschäfte weniger wichtig als die höfischen Gesetze, denn, so entschuldigt er sich, “mande m’a une pucele”. Gewiss, die Liebe hat ihre Kehrseiten, die Ausschweifung und ihre schrecklichen Folgen (die Aussätzigen sind lebendes Beispiel dafür), aber sie ist vor allem dieses totale Versprechen von Isolde der Blonden:
Je vos pramet par fine amor...
und das hält die losengier (Verleumder, Eifersüchtige) fern oder zieht sie an. Das Wort losengier erscheint achtmal im Tristan von Béroul oder zumindest in dem Teil, der uns erhalten ist. Selbstverständlich ist diese Vokabel aus der Langue d’Oc - lauzengier - ein Schlüsselwort, das Verleumder, Verräter, Feind derer, die sich lieben, bedeutet und das man bei verschiedenen Troubadouren, darunter Bertran Carbonel, Giraut de Bornelh, Raimbaut d’Aurenga, Bernart Marti findet, alles Fachleute für eine Dichtung - trobar clus -, die mit feinsten, für die Mehrheit nicht wahrnehmbaren Nuancierungen, befrachtet ist. Eine poetische Gattung, der sich auch Thomas befleissigt - ohne sein Wissen vielleicht - wenn man die Termini losange (MS Turin), lousange (Fragment Douce) und losange (Folie von Bern) wörtlich nimmt.
Was die “Liebe nach Thomas” betrifft, vom Kontakt der Epiderme bis zu den letzten Gunstbezeigungen unter Ausschluss jeder puterie oder druerie (Fragment Douce), zeigt sie sich in zwangloser Folge an den obligatorischen Kontrollpunkten: la baise, l’acole, l’embrace (MS Sneyd); deduit, quisse ouvrir (MS Turin); pucelage, deduit, cors a cors (Ende der Dichtung); baisa, anbrace (MS Bern); bis hin zur gewagten Grenzüberschreitung in der Folie von Oxford:
“E vos quissettes m’aüvristes
E m’i laissai chaïr dedenz”.
Aber sie ist auch amor de lonh, por m’amor (MS Cambridge); fin’amur, amur (MS Sneyd); amors, joie d‘amor, estrange amor (MS Turin); veir’ amor (Ms Strassburg); amur fine et veraie (Fragment Douce) oder sogar diese seltsame Mischung :
“En doz baisiers de fine amor
Ou embracez souz covertor” ;
verbale Variationen, die schliesslich in phonetische Phantasterei und andere Gaukelei einmündeten, wodurch eine Anzahl Seiten bei Meister Gottfried zu ebensovielen Übungen für blasierte Lexikographen werden: Die Szene, in der sich Tristan und Isolde ihre Liebe eingestehen, ist ein vollendetes Beispiel dafür, und wenn man schliesslich auf ein ameir ameir de la meir (amour amer de la mer) stossen sollte, würde sich natürlich niemand wundern. Die Mehrzahl dieser das Gefühlsleben betreffenden Ausdrücke geht zweifelsohne auf alten provenzalischen Bestand zurück, deutliches Echo des trobar clus (hermetisches Finden), dem gewisse gaskonische Troubadoure der ersten Generation (die indessen nicht alles gesagt haben, wie G. Montanhagol richtig bestätigt) huldigten und die von einem ganzen Stamm hauptberuflicher Forscher durch die Bank in kirchlichem Sinne ausgelegt worden sind, indem sie - um nur ein Beispiel von mehreren zu nennen - den anti-ehelichen oder ehebrecherischen Charakter der Liebe, über die sie abhandeln, herausstellen!
Ohne den Fächer der verschiedenen Lesarten zu entfalten, den manche auf der Suche nach Lösungen, die von den Autoren des Mittelalters nie ausgedrückt wurden, geöffnet zu haben (vgl. recenti interpretazioni del trobar clus, Mario Mancini, Firenze, Leo S. Olschki 1970) und auch, wenn man zugibt, dass die Lektüre eines Textes vor allem ein Abenteuer ist, auf das sich jeder selbst einlässt, bewahrt doch die Sage von Tristan und Isolde - Fixstern oder Sternwolke von Legenden, je nach der Optik, aus der man sie betrachtet - einen Zusammenhang im Ausdruck, der vielleicht von den sich ausschliesslich um die Entstehung der Geschichte in ihrem mittelalterlichen Kontext bemühenden Gelehrten unterschätzt worden ist. Identifikation der Quellen bedeutet nicht notwendigerweise Verständnis der Botschaft, die das Werk übermittelt oder verewigt trotz der oft mörderischen Opposition derer, die über die Gewissen gebieten oder in offizieller und bezahlter Funktion einen Kult zelebrieren, der über ihre Köpfe geht.
Denn die Liebe ist nicht eine Erfindung des Mittelalters, sondern vielmehr ein schicksalhaftes Ereignis, in seinem Charakter Quanten vergleichbar, selbst wenn dies den Gläubigen einer Liturgie, deren Professoren und Doktoranden hartnäckig psalmodieren, dass das Ereignis immer dem Stereotyp vorausgeht und demzufolge die höfische Lyrik auf die grundlegende Rolle, die die Jungfrau Maria spielt, zurückzuführen ist, nicht gefällt (König Mark ist im übrigen für diesen Kult der Jungfrau empfänglich...);
dieser Vers wird einstimmig von den die Wahrheit besitzenden Anhängern des Aristoteles in akademischen Institutionen und sonstigen Kollegien, die mehr oder weniger im Dienst obskurer Offenbarungen stehen, wiederholt (allerdings stellt Voltaire fest, dass die Universität von Paris rechtliche Schritte gegen die Jungfrau von Orléans unternommen hat); wiederholt auch von den anderen Händlern im Tempel der Romanistik (eine Namensliste befindet sich am Ende unseres Beitrags La Canso de Gasto Febus à Frédéric Mistral: “Koïné lyrique” ou “Voix d’un Peuple”? (Congrès du Cinquantenaire FILLM, Aix-en-Provence, 1er septembre 1978); sie beten den Rosenkranz der anerkannten Litaneien, verfassen Werke, deren Umfang nur ihrer Leere entspricht und haben ihre Besonderheit darin, dass sie die Sprache, über die sie abhandeln, nicht kennen (“man bedenke, dass Dissertationen gegen den Blutkreislauf geschrieben worden sind; man erinnere sich an Galilei und sei getröstet sagt uns Doktor Littré);
diese Hersteller von Faksimiles der losange (Verleumdung), so wie sie im Manuskript 4030 der tadellosen vatikanischen Bibliothek verborgen ist, die immer noch dabei sind - mittels Textverbesserungen verschiedener Herausgeber - nach sieben hundert Jahren philosophisch-philologischer Irrwege ausserhalb intensiver Schwerefelder und über die Hoffnungen selbst eines Flaubert hinaus, die Vorzüge einer Form, die angeblich nichts ausdrückt, zu preisen; dieses Nichts, das allerdings den Anhängern der folle croyance (verrückter Glaube) (der Ausdruck stammt von dem wohlmeinenden Autor des ersten Teils des Liedes über den Albigenser Kreuzzug, Geistlicher und frühreifer, aus Tudèle in Navarra stammender Spezialist der Geomantik) einbrachte, mit den ersten krematorischen Scheiterhaufen des zivilisierten monotheistischen Europas zu experimentieren; wobei sie nicht aufhörten, von den Ufern des Landes de lonh (weit entfernt) bis zu Aquelhos mountagnos (unsere hohen Berge) und genau im Ton eines Béroul zu singen:
“la plus bele
qui soit de ci jusq’en Tudele”.
Übersetzung : Dagmar Coward Kuschke (Tübingen)
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