Fünf versprengte Fragmente, dialektisch sehr unterschiedlich, und die nicht zusammenpaßen, ist alles, was von dem Tristran eines anglo-normannischen Schreibers mit Namen Thomas bleibt. Sie sind bekannt als das Cambridge Fragment (zufällig in der Universitätsbibliothek entdeckt von Théodore-Claude- Henri Hersart, Vicomte de La Villemarqué, 1856, in der Form eines einzigen, am unteren Rand zerfreßenen Pergamentblatts mit sechsundzwanzig Zeilen auf jeder Seite); die Sneyd Fragmente, nach dem Namen des Geistlichen M. W. Sneyd, aus Cheverell’s Green, Hertfordshire, der sie einem Notar in Venedig abgekauft und dann der Bodleian Library in Oxford übergeben hat; das Turin Fragment, im Augenblick verloren, aber sein Inhalt bewahrt in einer Transkription des Originals, die von Francesco Novati 1887 ausgeführt wurde; das Douce Fragment, das in der Bodleian Library aufbewahrt wird; es enthält das Ende des Gedichts, gefolgt von der Folie Tristran von Oxford.
Beroul erzählt die Geschichte von Tristran auf einfache Weise und ohne wirklich die Ideen oder Moden, die in der Gesellschaft seiner Zeit zirkulierten, zu beachten; das Hauptanliegen von Thomas ist, den Geschmack seiner Zeitgenoßen zu treffen. Er ist nicht nur Erzähler, sondern vor allem Architekt und Baumeister, der anderen, wie Beroul, die Aufgabe überläßt, den verzweifelten Kampf von Menschenwesen gegen ein unvermeidliches Schicksal zu besingen. Um eine wohlbekannte Geschichte den Normen seiner Zeit anzupaßen, muß ein neuer Zugang benutzt werden. Deshalb stellt Thomas seine Personen in andere psychologische Situationen, und analysiert dann ihre Reaktionen für ein Publikum, das an die gelehrten Erklärungen von Kasuisten gewöhnt ist, ob in Liebesdingen oder nicht. Die rauen und oft kantigen Episoden, die im Fluß von Berouls Erzählung auftauchen, werden eliminiert oder abgemildert: zum Beispiel der König, der Isolde den lüsternen Außätzigen aushändigt, oder die Härten des Exils im Wald von Morois, werden in der Art einer ländlichen Idylle in Ovidischer Umgebung dargestellt, wenn wir Gottfrieds Version folgen, deren direkte Quelle Tristran von Thomas war.
Indeßen hat das Thema von Tristan und Isolde nicht viel mit dem höfischen Ideal zu tun, und Thomas hat diesen Mißklang wahrnehmen müßen; er begriff, daß er nicht eine orthodoxe Geschichte präsentieren konnte, die aus Elementen bestand, die so unvereinbar waren mit dem gängigen Geschmack, und hat wahrscheinlich gemeint, daß die Art des Erzählens der Geschichte mehr wert ist als die Geschichte selbst.
Am Anfang war der ‘Fehler’. Thomas hat diese illegale Liebe außerhalb der christlichen Ehe akzeptiert, selbst wenn der Liebestrank kein mildernder Umstand für die mit einer neuen Gerichtsbarkeit konfrontierten Liebenden ist: die höfische Gerichtsbarkeit, deren ziemlich starr definierte Regeln für moralische und gesellschaftliche Verhaltensweise dem rücksichtslosen Schicksal wenig Raum laßen. In dem Trio Mark, Tristan und Isolde glaubt Thomas, die Fäden zu halten, die die Bewegungen der weltlichen Marionetten auf der Kathedral-Bühne des orthodoxen christlichen Europas bestimmen. Die wirklich höfische Doktrin ist, daß moralischer Fortschritt durch die Anstrengungen des Individuums selbst erreicht wird: da Tristans und Isoldes Liebe absoluten Charakter hat, kann unmöglich Beßerung erwartet werden. Thomas hat verstanden, daß er eine nur zu fest verwurzelte Geschichte nicht total verändern kann; er sieht sich daher veranlaßt, die Probleme dieser ‘anti-ehelichen’ oder ‘ehebrecherischen’ Situation mit Hilfe der Regeln, die das höfische Alltagsleben dominieren, zu analysieren, wobei das Geschehen, das im Stream of Consciousneß abläuft, das Fundament für die Erzählung ist.
So Tristan und seine Hochzeitsnacht mit Isolde Weißhand :
‘Si jo me chul avoc ma ßpuse
Ysolt irt tute coreüse ...’,
eine Beichte, die ihre Parallele in den endlosen Monologen der Sneyd Fragmente findet, wo Tristan sich fragt, ob er in der ehelichen Liebe die Gefühle finden wird, die Isolde mit Mark erleben muß; höfisches Meisterstück obendrein, denn Thomas weist darauf hin, daß es nicht die ‘wirkliche Liebe’ ist, die Tristan veranlaßt, Isolde Weißhand zu heiraten, sondern vielmehr dieses unkontrollierte Verlangen nach Isolde der Blonden, ein Verlangen, das sich nicht an die Gesetze des Tractatus de Amore oder des De Arte Honeste Amandi von Andreas Capellanus, des Kaplans von Marie de Champagne, halten will. Die Leser von André le Chapelain, die gut bewandert waren in den psychologischen Analysen einer Epoche, in der die Dialektik der Beichte es geschafft hat, zum Selbstzweck zu werden, konnten sich über diese Art der Argumentation nur freuen : ist hier nicht Tristan der Eifersüchtige?
Ist es deshalb überraschend, daß Thomas’ Sympathie sich der netten Isolde Weißhand zuwendet, neuestes und unschuldiges Opfer dieses Gesetzlosen der Liebe, der sich, zusammen mit Isolde der Blonden, so gut auf die üblen Taten dieser Welt versteht? Der schließliche Verrat von Isolde Weißhand wird so vorbereitet und ist schon halb vergeben.
Aber diese Hochzeitsnacht zeigt auch die Hoffnungslosigkeit einer Situation, in die Tristan sich verirrt hat: eine psychologische Sackgaße. Die Intervention Kaherdins, des Bruders von Isolde Weißhand, ist nötig, um Tristan einen Ausweg finden zu laßen. Ohne den Zwischenfall mit dem ‘indiskreten Spritzer’, der die Schenkel der Reiterin mit den weißen Händen an einer Stelle erreicht, an der Tristans Hand nie war (Ms. Turin), hätte Kaherdin nicht die Beichte seiner Schwester empfangen, und Tristan deshalb nicht Vorhaltungen machen können. Letzterer antwortet, indem er Kaherdin in die Skulpturengalerie führt, wo er die physischen Silhouetten von Isolde der Blonden, ihrem Hund und Brangäne so geschickt rekonstituiert hat, daß sie lebendig erscheinen. Auf der Stelle verliebt sich Kaherdin in die Statue von Brangäne, und wünscht, das Modell kennenzulernen, was der Grund für die Abreise der beiden Akolythen in das Königreich von Mark ist.
Tristan und Isolde sehen sich wieder, und nehmen erneut ihre Liebesbeziehung auf, selbst wenn sie heftig kritisiert werden von Brangäne - eine tüchtige Wortführerin des ‘höfischen’ Thomas - die es ablehnt, Kaherdin die Gunst zu erweisen, die Motiv seiner Reise ist:
‘Il voleit aveir cumpagnie
A demener sa puterie’
kommentiert sie, bevor sie sich schließlich hingibt auf dringende Bitte von Königin Isolde, die Brangäne nicht schonen wird in der dramatischen Auseinandersetzung, die sich später zwischen den zwei Frauen entwickelt.
Diesem Ausbruch von Gewalt seitens der unerbittlichen Brangäne, die allerdings Grund zur Klage hatte, begegnet Isolde schwächlichlich, abwechselnd besorgt und versöhnlich, so anders als die Heldin von Beroul. Es folgt dann die letzte Episode.
Der Ritter Estult l’Orgilius Castel Fer hat die Freundin (‘bele amie’) von Tristan dem Zwerg entführt, und hält sie gewaltsam in seinem Schloß fest, wo er macht ‘quanques li est bel’, das heißt, was er will. Tristan der Zwerg fleht Tristan an zu helfen, weil er in aller Augen der verkörperte Verteidiger der Bedrückten und das Modell aller Liebenden ist: Tristan l’Amerus ‘qui plus ad amé, de trestuz ceus qui unt esté’. Tristan zögert zuerst, gibt dann den Argumenten Tristans des Zwergen nach. Er ist jetzt nicht mehr ein von der Gesellschaft ausgestoßener Verbannter. Er ist die Gesellschaft, ihre letzte Zuflucht, respektiert und bewundert von allen, außer den Eifersüchtigen, in diesem Land Bretagne, das ihn zum Ritter schlug, und das vereint klagen wird, wenn sein Tod herbeikommt.
Indeßen entgeht die Dame nicht ihrem Geschick. Tristan der Zwerg wird in dem Abenteuer erschlagen. Tristan der Liebhaber, verwundet von einer infizierten Klinge, wird sich wieder seinem einzigen Helfer zuwenden: Isolde der Blonden. Sie ist in einem Fernen Reich. Er muß Kaherdin überreden, sie zu holen, und nicht sein loyaler Knappe Governal, denn Thomas beliebt festzustellen, daß er, in diesem Fall, der Tradition von Breri folgt
‘Ky solt lé gestes e lé cuntes
De tuz lé reis, de tuz lé cuntes
Ki orent esté en Bretaigne’.
Breri wird von manchen als ein gewißer Bledhericus identifiziert, der gut informiert war über die Kriegs- und Liebesabenteuer des Adels der Bretagne, die er am Hof von Poitiers erzählte. Andere haben in ihm Bledri ap Cadivor gesehen - Waliser Dichter und Edelmann - ein Verbündeter der Normannen und Zeitgenoße von Thomas, oft als Latinarius, id est ‘Übersetzer’, bezeichnet.
Leider hört Isolde Weißhand die Unterhaltung mit, und fragt sich, zuerst, ob Tristan nicht die Welt verlaßen und ‘muine u chanuine’ (Mönch oder Domherr) werden will, bevor sie hört, wie der Mann, den sie liebt, Kaherdin gesteht, daß sie selbst wegen Königin Isolde ‘mechine’ bleibt. Thomas schreckt zurück vor der Szene, die folgen sollte, und appelliert lieber an den gesunden Menschenverstand des Volks:
‘Ire de femme est a duter
Mult s’en deit chaschuns hum garder’
(Fürchterlich ist die Wut der Frau,
mögen sich alle Männer davor hüten).
Kaherdin reist dementsprechend nach London ‘mult riche cité’, wo ‘Li hume i sunt de grant engin’ (die Leute dort sind gewitzt). Er erreicht die Stadt nach einer Seereise von zwanzig Tagen, mit einem Schiff vollbeladen mit kostbarer, den Plantagenets würdiger Fracht: Geschirr aus Tours, Wein aus Poitou, Vögel aus Spanien, was ihm alles helfen wird, seine Mißion beßer zu tarnen. Er trifft mit Isolde der Blonden zusammen, und bringt sie in Verwirrung über den Zweck seiner Reise. Sie aber ist unentschieden, und ziemlich mitleiderregend, bevor sie sich ratsuchend an Brangäne wendet, die sie drängt, in die Bretagne zu reisen und Tristan zu helfen.
Werden sie, wird Isolde rechtzeitig ankommen, innerhalb der vierzig Tage Frist, die Tristan Kaherdin gewährt, ein biblischer, wenn nicht rechtlicher Aufschub, an deren Ende Tristan sterben wird, ungeachtet der Farbe eines Segels?
Das kleine Schiff segelt ohne Zwischenfall via Wißant, Boulogne und Le Treport, als plötzlich ein Sturm losbricht, der die Mannschaft zwingt, den Kurs zu ändern und große Not bei Isolde auslöst, deren größter Wunsch anscheinend ist, im Eingeweide eines Fisches zu enden, so sicher ist sie, daß Tristan, von dem gleichen Wal verschlungen, sie dort finden wird; auf diese Weise hätten sie die gleiche Grabstätte. Am fünften Tag legt sich der Sturm, die Bretagne ist in Sicht, das weiße Segel wird gehißt, aber jetzt ist Windstille, und das Dinghi ist im Sturm zerstört worden. Isolde ist verzweifelt.
In dieser ganzen Zeit seufzt, stöhnt Tristan und sagt kein Wort, ergibt sich in die Abwesenheit der einen, die er liebt. Dreimal sagt er ‘Isolde meine Liebe’, danach sein letzter Atemzug.
Draußen auf See erhebt sich der Wind. Isolde geht an Land, sie hört die Totenglocken läuten, das Volk jammern, sie empfängt die Nachricht: ‘Tristan, li pruz, li francs, est mort.’ Isolde wendet sich nach Osten, betet für ihre Liebe Tristan, streckt sich neben ihm aus, küßt ihn und stirbt...
Sein Geschick als ein Dichter, der ein Gefühl für die Musik der Worte hat, ermöglicht es Thomas, in dieser letzten Episode - mit Hilfe der sonoren Klänge ur, ei, or - Mitleid und Kummer auszudrücken, die seine Zuhörer bewegen werden, da in mittelalterlichen Texten Worte und Musik eng verbunden waren, wie es der Troubadour feststellt:
‘Cobla ses so es en aißi
Co’l moles que aigua non a’
(ein Couplet ohne Musik
ist eine Mühle ohne Waßer)
auf jeden Fall war das Publikum höchst kritisch bei Schwächen in der Verskunst oder Mängel im Gesang, nicht notwendigerweise im gregorianischen, was auch immer darüber gesagt worden ist. Beroul bleibt, trotz oder wegen seiner Einfachheit, Meister in der Erzählkunst. Thomas distanziert sich mehr von den Realitäten dieser Welt; die trostlose Landschaft, und die windumtosten Felsen von Cornwall, die die riesige innere Einsamkeit des Flüchtlings Tristan begleiten, und die Lumpen der Außätzigen, sind kaum vereinbar mit der zivilisieren Themse, die am Fuß der Festungsmauern fließt und Kaherdin und seine reiche Ladung transportiert.
Indeßen ist der Unterschied zwischen den Versionen der beiden Dichter vielleicht am offensichtlichsten in der Behandlung des Charakters von Mark. In der Folie Tristran von Oxford, die dem Gedicht von Thomas folgt, Tristan:
‘... surjurne en sun païs
Dolent, mornes, tristes, pensifs’;
in der Folie Tristan von Bern, näher an Berouls Text, hat der König Tristan gewarnt:
‘Se de lui puet avoir saisine
Mout li vaudra po son uorine
Que par lui ne reçoive mort’;
hier wird Mark diese tragische, wenn nicht bewegende Dimension zugestanden, die ihm Beroul verweigert, eine manchmal merkwürdig paßive Rolle, in der er einfach ein Doppel ist für andere Personen: den Zwerg, die Außätzigen oder selbst Tristan.
Nichts von solcher Dramatik findet sich in der Arbeit von Thomas. Dort verhindern die höfischen Regeln, daß Mark seine durch Eifersucht motivierte Rache voll außpielt, besonders da er von der Schuld Isoldes nicht überzeugt ist, und von Brangäne mit ihren Anspielungen auf Cariado leicht getäuscht wird. Marks psychologische Unbeweglichkeit lastet schwer auf einem fast statischen Werk. Was Tristan anbetrifft, hat er wieder seine Rüstung von ritterlichen Tugenden und guten Manieren angelegt; ihm gefällt das kontemplative Leben, beschäftigt wie er ist durch sein Innenleben und deßen Freuden und Leiden, an denen er sich weidet. Was Isolde angeht, eine Dame edler Herkunft, gibt sie sich, als erfahrene Zuschauerin, der Süße von Melancholie und Mitleid hin, die verursacht werden durch die den edlen Protagonisten der Tristan Legende aufgebürdeten Hinderniße.
Ob aus Höflichkeit oder Kunstfertigkeit, Thomas versichert seinen Zuhörern, daß er, endlich, seine Geschichte beendet hat und sich die Freiheit nimmt, alle Liebenden und alle, die seinem Vers zuhören, zu grüßen - ob sie davon befriedigt sind oder nicht. Thomas hat wie versprochen die ganze Wahrheit gesagt, selbst wenn die Legende stellenweise verschönert ist, um Liebenden zu gefallen, die dort ein Maß für ihre eigene Leidenschaft, oder Trost gegenüber den Tricks der Liebe finden können...
Die Geschichte von Tristan und Isolde hätte hier enden können.
|