Herr Harel, Direktor des Theaters Porte Saint-Martin, hatte es deutlich gemacht: ”ich will Melodien, die unter dem Text flach auf dem Bauch liegen”. Es kam also nicht in Frage, für die Premiere von Lucrèce Borgia (12. Februar 1833) eine Musik zu begrüssen, ”die man hören und die vom Drama ablenken würde”, selbst wenn sie vom Autor Hugo persönlich verlangt wäre.
Dennoch nimmt die Musik in diesem Stück einen recht besonderen Platz ein, da sie die überraschende Wendung bewirkt, die die Lösung herbeiführt mit diesem Duett zwischen dem Trinklied und dem De Profundis, zwischen der Prozession der Mönche und den Akzenten von Orgie, ausgedrückt in den Versen des Dichters und den Noten des Dirigenten der Porte Saint-Martin, Alexandre Piccini, Enkel des sogenannten Gluck-Rivalen, der damit zufrieden war, den Rhythmus des Refrains gemäss dem, von dem Dramaturgen auf eine Tischecke gehämmerten, ungehobelten Takt wiederzugeben.
Es heisst, Meyerbeer und Berlioz seien auch interessiert gewesen, diese Musik zu schreiben; aber Piccini konnte es so “flach” machen, wie vom Herrn Direktor Harel gewünscht.
Die Szenenmusik (einfache Orchestertremolos) zeigte also keine Spur von den Wünschen, die der Autor des Dramas in seinem berühmten Brief vom 16. Januar 1832 an den belgischen Musikographen François Joseph Fétis, enttäuschter Veranstalter des Historischen Konzerts vom 16. Dezember 1832 (wiederholt am 13. Januar 1833), formuliert hatte : “Monsieur, Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie entzückt ich anderntags von ihrem Konzert war. Sie erweisen der Kunst einen grossen Dienst mit derartigen Wunderdingen. Sie vollbringen das Werk eines Antiquars und eines Künstlers. Ich danke Ihnen daher doppelt dafür...Ich habe noch eine Bitte an Sie. Ich möchte, dass dem Gondoliere, den ich im ersten Akt nachts auf den Lagunen von Venedig sich ergehen lasse, einige Phrasen der Romanesca und Vilhancico, die uns anderntags bezaubert haben, entschlüpfen. Wäre es indiskret, Sie zu bitten, mir diese zwei wunderbaren Musikstücke für unsere Ausführenden zukommen zu lassen? Das wäre ein grosser Dienst, mir äusserst wertvoll, den ich mit Freuden von Ihnen entgegennnehmen würde.”
Victor Hugo war 31 Jahre alt. Das Historische Konzert zählte also unter der Zahl seiner Zuhörer den Mann in Frankreich, der - zu unrecht - als der für Musik Verschlossenste galt und von dem man immer noch das berühmte “Ich mag nur den Leierkasten und die Melodien von Dédé” (alias seine Tochter Adele, in der Abwesenheit von Leopoldine?) zitierte; aber gibt es nicht Legenden, die Jahrhunderte überdauern?
L.a.s. Léopoldine Hugo, Collection Privée
In allen Dramen von Hugo gibt es ein oder mehrere Lieder. Er schreibt einige selbst oder lädt Komponisten ein. 1831 bestellt die Juli-Regierung bei ihm eine Hymne, um den Jahrestag von denen, “die fromm fürs Vaterland gestorben sind”, zu feiern; Hérold (Prix de Rome 1812), Komponist von Zampa, von Pré aux Clercs und von dem Ballett La Somnambule (1827), bekommt den Auftrag für die Musik. Hugo richtet diese Worte an ihn: “Ich weiss nicht, ob Sie Lust haben, etwas mit den Versen zu machen, die ich die Ehre hatte, Ihnen zu senden, und ich lade Sie sehr ein, nichts damit zu machen. Wenn Sie aber beschliessen, diesen toten Buchstaben Seele und Leben zu geben, finden Sie hier zwei Verse, die ich geändert habe...”
Die Komponisten bleiben dem Dichter an Koketterie nichts schuldig. Charles Gounod schreibt von Saint-Cloud, 39, route Impériale:
“Mein Herr und sehr berühmter Meister,
Ihre gigantische Art, Ideen und Bilder wie Welten zu bewegen, diese Orgel des Denkens, deren gesamte Klaviaturen widerklingen unter Ihren Fingern, all das wirft eine so mächtige Sonorität in die Seele, dass man seine eigene schwache Note nicht mehr hinzuzufügen wagt, verloren wie sie wäre in den Orkanen, die Sie entfesseln.”
1839 wendet sich Gasparo Spontini, der berühmte Autor der Vestalin (6. Dezember 1807) mit diesen Worten an ihn: “Ich hätte Ihnen auch einige Ideen zu unterbreiten, um Ihnen das Auffinden eines wirkungsvollen Sujets für grosse Oper zu erleichtern, leidenschaftlich, sinnlich, mit fortlaufenden Balletten, religiösen Zeremonien, mit Kriegshymnen, Liedern,
heroischen, sinnlichen, jagdbezogenen Balladen...”
Ernest Reyer, volle 32 Jahre alt, der sich mit Sigurd und Salammbô auszeichnen sollte, gestattet sich, am 22. Dezember 1855, ihn um Erlaubnis zu fragen, die Vieille Chanson du Jeune Temps zu vertonen, wobei er allerdings anerkennt: “es stimmt, dass sie es überhaupt nicht nötig hat, aber ich wäre recht stolz, meinen so wenig bekannten Namen unter ihrem wohlwollenden Renommee zu bergen.” Nach neun Monate später gewährter Erlaubnis bedankt sich Reyer überschwenglich: “...ich werde auf diese Weise Anteil haben an dem legitimen und widerhallenden Erfolg der Contemplations.”
Der grossen Orgel von Gounod antwortet das Klavier (“dieses Tier aus Holz”) von Mademoiselle Louise Bertin, sehr liebe und treue Freundin des Dichters (“...Sie, deren Flammen-Hand an der Klaviatur die Sprache Ihrer Seele zu Gehör bringt”), der Stunden verbrachte, ihr zuzuhören, wenn sie ihm den Chor aus der Armide von Gluck spielte: “niemals an diesen schönen Orten...”, ein Hugo, der schon so sehr die Jägerchöre in Webers Euryante schätzte: “vielleicht das Schönste in der ganzen Musik.”
“Es ist verboten, Musik entlang meinen Versen abzulegen,” warnte Victor Hugo. Indessen, hatte er nicht selbst 1836 (er war 34 Jahre alt) Louise Bertin die Erlaubnis gegeben, eine Partitur für das Opernlibretto La Esmeralda zu schreiben; ein Libretto, das er selbst, und in Versen, aus seinem Roman Notre-Dame de Paris gezogen hatte, wohl wissend, dass der Direktor der Pariser Oper, Doktor Véron (genannt Torti Coli), der Familie Bertin, die das Journal des Débats besass, so die Regierung schulmeisterte, nichts abschlagen könnte und die Aufführung unternehmen würde. La Esmeralda wurde also sechsmal ganz gespielt, mit Ballett; ab der siebenten Aufführung wurden drei der vier Akte überarbeitet; dann spielte man nur noch den ersten. Die 25. Aufführung war die letzte. Es passte Victor Hugo sehr gut, vor der Musik in den Hintergrund zu treten (“er, der nichts ist”, wie er von sich selbst sagte und die berühmten Präzedenzfälle Molière und Corneille, Librettisten der Ballett-Oper Psyche, 1671), zitierte.
Victor Hugo betrachtete die Musik von Louise Bertin als “brillante Draperie”; der Kritiker der Zeitung Le Voleur verglich die Musikerin mit Meyerbeer; was das Dekor anbetrifft, sah Victor Hugo vor, das Theater einzubrechen, damit die Türme der Kirche Notre-Dame in Vogelfluglinie sichtbar würden”. Nur das Journal de Paris wagte einen Moll-Ton (um nicht zu sagen, Schatten für alle diese Strahlen): “...wenn der Autor des Gedichts sich aus Galanterie im Hintergrund gehalten hat, muss man zustimmen, dass er sein Ziel wunderbar erreicht hat: vielleicht kann er sich sogar schmeicheln, über das Ziel hinausgeschossen zu sein”.
Sollte aus dieser Zeit der scherzhafte Einfall stammen “Es ist verboten, entlang meinen Versen Musik abzulegen” ?
Amilcare Ponchielli (La Joconda, Marion Delorme), Giuseppe Verdi (Ernani, Rigoletto) inspirierten sich an Angelo, Tyran de Padoue und an Le Roi s’amuse. In Bezug auf Rigoletto ist bekannt, dass der Dichter nach Anhörung des Quartetts des letzten Akts begeistert ausrief: “Wenn ich auch in meinen Dramen vier Personen gleichzeitig sprechen lassen könnte und das Publikum ihre Worte und Gefühle wahrnähme, würde ich den gleichen Effekt erzielen.” Später haben sich noch andere bemüht, darunter grosse Lied-Komponisten wie Camille Saint-Saëns (Gitarre), Liszt (Oh! wenn ich schlafe) oder Gabriel Fauré (Mai, Der Schmetterling und die Blume, Liebestraum, Da hier unten jede Seele, In den Ruinen einer Abtei...), die von Olympio selbst gegebene Definition von Melodie zu illustrieren: “eine Melodie ist für das Ohr, was das Parfum einer Blume für den Geruchssinn ist: eine nicht auszudrückende Mischung von Gefühlen und Ideal” (in Tas de Pierres).
Sicher, Hugo interessierte sich nicht für das Italienische Theater. Er liebte nicht Rossini, er liebte nicht La Donna del Lago, er liebte also nicht die Musik. Aber wenn man ihn bittet, mit dem Namen eines Genies jede der grossen sogenannten zivilisierten Nationen zu charakterisieren, nennt er Homer für Griechenland, Dante für Italien, Shakespeare für England und...
Beethoven für Deutschland.
Entdeckt man nicht in Les Rayons et les Ombres?:
“Mächtiger Palestrina, alter Meister, altes Genie,
Ich grüsse Euch hier, Vater der Harmonie...
Denn Mozart, Euer Sohn, hat auf Euren Altären
Diese neue Leier geholt, unbekannt den Sterblichen...”
Palestrina, Gluck, Mozart, Weber, das ist schon mal nicht schlecht. Was Beethoven anbetrifft: “das ist die deutsche Seele”, und er fügt hinzu: “Dieser Taube hörte die Unendlichkeit...Dieses Wesen, das nicht das Wort wahrnimmt, erzeugt den Gesang. Seine Seele, ausserhalb seiner selbst, wird zu Musik. Diese blendenden Symphonien, zart, feinfühlig und tief, diese Wunder von Harmonie, diese sonoren Ausstrahlungen der Note und des Gesangs, kommen aus einem Kopf, dessen Ohr tot ist. Es scheint, man sähe einen blinden Gott Sonnen schaffen...”
Diese Sonnen, die vielleicht, alles in allem, nur die “unsterbliche Geliebte” des Musikers waren, an dem Guiletta Guicciardi, Thérèse Brunswick, die Sängerinnen Magdalena Wilmann und Christine Gerhardi, die Gräfin Deym, Thérèse Malfatti und Amalie Sebald (von Weber so sehr geschätzte Amateursängerin) ein mehr oder weniger gehaltenes Interesse hatten.
Von Wagner wird nur durch das Prisma von Judith Gautier die Rede sein, dieser vorrangigsten unter den Verehrerinnen des Tristan Autors, aus Tarbes, die Hugo am Place Royale gekannt hatte (er wohnte Nr.6 und Théophile Gautier Nr.8) und der er das schönste der fünf aus seiner Feder geflossenen Sonette widmen wird:
“Ave, Dea, moriturus te salutat.
Judith, unsere beiden Schicksale sind einander
näher,
Als man glauben würde beim Anblick meines Gesichts
und des Ihrigen...
Wir sind beide Nachbarn des Himmels,
Madame;
Da Sie schön sind und da ich
alt bin.”
Hugo-Corneille war 70 Jahre in der Stunde dieser Verse. Booz dachte an Ruth, an den Kreis der Familie, an die traurigen beschmutzten Stirnen, an das Kind, das erscheint, an das Kind das singt:
“Das Kind sang...
Das Kind war fünf Jahre alt...
Die Mutter ging schlafen unter den Platten des Kreuzgangs;
Und das kleine Kind begann wieder zu singen.”
Der kleine Victor dachte an seine eigene Mutter, die schwer krank geworden war und an deren Bett er Han d’Islande verfasste, den Roman seiner Verlobung, und die am 27. Juni 1821 starb; er dachte an diesen bekannten Abend des 29. Juni, Tag der Beerdigung seiner Mutter, und an den Augenblick, wo Ordener, verrückt vor Schmerz, bis zum Logis von Ethel läuft; leichte Musik tönte aus den erleuchteten Fenstern des Hôtel des Conseild de guerre, rue du Cherche-Midi, Wohnung von Pierre Fouché, Abteilungsleiter im Ministerium, Ritter der Ehrenlegion und von Anne-Marie Victoire Asseline, seiner Gattin, glückliche Eltern von Adèle Julie, der Verlobten des jungen Victor. Man spielte Billard, man gab da einen Ball und Adèle ... tanzte.
Sein Leben lang hatte Hugo eine Leidenschaft für das Billard-Spiel (sei es auch “von seltsamer Art”): es gibt Wunden im Herzen, aus denen Musik quillt.
CLAUDE D'ESPLAS - Die Musikstunde
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Übersetzung : Dagmar Coward Kuschke (Tübingen)
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